
Die Freundschaft mit A., in der ich mich aus verschiedenen Gründen lange Zeit nicht wehren wollte oder konnte, zerbrach, eingeläutet durch einen bitterbösen Streit am Ende des Jahres 2002. Sie zerbrach daran, das wir eine komplett unterschiedliche Sicht auf unsere Freundschaft und unserer selbst hatten. Zulange hatten wir, hatte ich, geschwiegen, so dass alles über uns hereinbrach und wir der Monstrosität der in den Jahren aufgestauten Gefühle nicht gewachsen waren.
A. starb ein halbes Jahr nach den letzten Worten, die wir uns wütend an den Kopf geschmissen hatten.
Ein Magengeschwür war aufgeplatzt und sie verblutete innerlich.
Ich erfuhr es an dem Tag als ich Hamburg in einem vollgepackten Zwölftonner für immer verließ.
Oft habe ich seitdem über die Dualität und die Verbindung von ihr und mir nachgedacht.
Wir hatten uns zwar schon früher gesehen, aber wirklich getroffen hatten wir uns in einer Zeit, in der ich der Welt den Rücken zudrehte und mein Heil in dem Schutz meiner vier Wände suchte.
Es war eine Zeit, in der ich mich tatsächlich nicht einmal mehr in der Lage sah, einen Brief in den 50m entfernten Briefkasten zu werfen.
War ich doch einmal gezwungen diesen Gang zu gehen oder einen ähnlichen, brach mir der Schweiß aus, als ob ich im Hochsommer im Wintermantel herumlaufen würde. Ich hielt den Blick gesenkt und hoffte nur, das kein Mensch meinen Weg kreuzen würde.
Meine Knie waren weich, ich zitterte. Das ganze glich dem Gang eines Verurteilten zum Schafott. Konnte ich am Ende wieder meine eigene Tür hinter mit schließen, schlug mein Herz laut und wild, mein Puls dröhnte mir in den Ohren und ein einziger Gedanke kreiste in einer Art Dauerschleife in meinem Kopf herum: „Nie wieder!“
Heute, mit einem Abstand von gut 10 Jahren kann ich das nüchtern als Angstneurose definieren, was damals drohte, mich und mein Leben zu verschlingen.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie unglaublich trickreich man sich selbst seiner Freiheit berauben kann – räumlich, körperlich, seelisch.
Kein Gefängnis hätte dunkler, keine Mauer dicker sein können, als die, die ich um mich herum errichtet hatte.
In dieser Zeit trat A. in mein Leben. Fröhlich, unkompliziert, charmant, voller Humor.
Sie war eine ehemalige Studienkollegin meines Liebsten und sie hatten sich zufällig auf der Straße wiedergetroffen.
Nach einem Nachmittag voller alter Geschichten und viel Gelächter kam die unvermeidliche Frage – wollen wir noch etwas Trinken gehen?
Ich entschloss mich offensiv vorzugehen und erläuterte meine Lage.
Sie verstand – und nicht nur das. Sie wusste, wie ich fühlte, denn sie fühlte das Gleiche.
Sie kannte alles worunter ich litt, denn auch sie litt darunter.
Man kann sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, denn bis zu diesem Zeitpunkt, auch wenn ich schon in Behandlung war, hatte ich keine Ahnung, dass das, was mit mir geschah, auch andere Menschen überwältigte.
Wir wurden Freunde, gute Freunde, beste Freunde. Ich glaube tatsächlich, das noch nie eine Frau zuvor so nah an mich herangekommen ist wie sie.
So unterschiedlich wir mit unserer „Störung“ umgingen, so wenig versuchten wir dem anderen unseren eigenen Weg aufzudrängen.
Wir waren einfach füreinander da, halfen einander und schenkten uns in unserem gegenseitigen Verständnis, aber auch in unserem nicht unähnlichem Temperament und unserem grundsätzlich fröhlichem Gemüt ein paar unbeschwerte Stunden, wenn wir zusammen waren.
So ließ es sich aushalten und im Alltag focht jede für sich ihre eigenen Kämpfe aus.
Sie mit Arbeitsamt, Sozialamt und in ihrer Therapie, ich vor allen Dingen an der heimatlichen Front und in meiner Therapie.
So unterschiedlich unsere Lebensweisen waren, so unterschiedlich war auch die Herangehensweise, um wieder gesund zu werden.
Sie besaß einen großen Freundeskreis, lebte allein, verstand sich gut mit ihrer Familie und neigte dazu, der Angstneurose offensiv zu begegnen. Sie bekämpfte sie, indem sie sich entsprechenden Situationen immer wieder aussetzte, sich nicht sozial abschottete und sich generell unter Menschen wohler fühlte als allein in ihrer Wohnung. Wuchs ihr das Alleinsein über den Kopf, hängte sie sich ans Telefon – oder, wie ich erst sehr viel später begriff, an die Flasche.
Ich lebte an der Seite eines Mannes, der mich ausreichend liebte, um diese bittere Zeit mit mir durchzustehen, mir vieles abnahm und sein Leben anpasste. Ich hatte sehr wenige Freunde und es gab Zeiten, in denen selbst diese für mich einen Stressfaktor darstellten und nicht das Zuhause, das sie sonst für mich waren. Meine Familie war ein Mienenfeld, das ich mehr versuchte zu meiden als mich hineinzubegeben und ich ging angstmachenden Situationen gern aus dem Weg bzw. setzte mich ihnen nur an der Seite einer absolut vertrauten Person aus.
Sie wollte schnell gesund werden – ich wollte es dauerhaft.
Sie wollte leben – ich wollte verstehen.
Es funktionierte. Funktionierte für einige Jahre, in denen ich, noch hilfloser als sie, dankbar war, das sie blieb, mich verstand und mir so manche Situation erleichterte. Ich hörte ihr dafür stundenlang am Telefon zu und machte es ihr so möglich, ihre eigene Einsamkeit zu ignorieren und die sie umgebene Stille mit meiner Stimme zu füllen.
Ich hatte ja kein Leben, das mich vom Telefon weglockte.
Schwierig wurde es, als sich die Situation zu verschieben begann. Meine Therapie zeigte langsam erste Erfolge und ich eroberte mir Stück für Stück Lebensraum zurück, geistig wie physisch.
War der Gang mit dem Hund an der Seite meines Liebsten zu Beginn eine Qual, auf die ich gut verzichten konnte, so wurde sie mit der Zeit zu einem geliebten Ritual, das es mir möglich machte, mich zumindest eine Stunde am Tag an der frischen Luft aufzuhalten.
Es kam der Tag an dem ich mich wieder an das Steuer meines Autos setzte und tatsächlich wieder allein Freunde besuchte, den Hund ausführte oder sogar einkaufen ging, mich immer mehr aus den selbstgestalteten Abhängigkeiten herausschälte und an Lebensqualität und vor allem an Selbstbewusstsein gewann.
Parallel dazu wurde der Kosmos von A. immer kleiner. Ihr brach alles weg, sie verlor mehr und mehr die Kontrolle über ihr Leben und spürte immer deutlicher die Fremdbestimmung durch Arbeits– und Sozialamt, das immer wieder Druck ausübte während gleichzeitig die von der Krankenkasse bewilligten Stunden für die Therapie verbraucht waren.
Jetzt brauchte sie abgesehen von einem offenen Ohr auch Geld und organisatorische Unterstützung. Wir halfen wo wir konnten. Wir liehen ihr immer wieder Geld, bis die Summe, die sie uns schuldete, so hoch war, das sie diese, ihrer eigenen Meinung nach, nur noch bei uns abarbeiten konnte. Ich war dagegen, da ich der Meinung war, das diese Art von Verhältnis unsere Freundschaft über Gebühr belasten würde. Am Ende sollte ich Recht behalten. Der Sozialneid, der Stück für Stück offen zu Tage trat, war schwer zu ertragen.
Sie schaffte es, das ich mich für das Glück in meinem Leben schämte und ich mich ihr gegenüber schuldig fühlte.
Sie schien immer weniger mit der Einsamkeit zurecht zu kommen. Die Anrufe, in denen die ewig gleichen Themen bis ins ewig gleiche Detail diskutiert wurden, stellten sich immer häufiger und immer länger ein.
Da gab es nur ein Problem – ich hatte inzwischen wieder ein Leben.
Ich gab mir alle Mühe, für sie da zu sein und doch kam der Punkt, an dem ich nicht mehr beim ersten Klingeln ans Telefon ging, sondern abwartete, wer auf Band spricht, an dem ich mein Portemonaie verschloss und nicht mehr für sie öffnete und der Punkt, an dem ich mich regelrecht Verleugnen ließ.
Ich wollte nicht ihr Leben leben, ich wollte endlich wieder das meine leben.
An einem Donnerstag im Mai sagte sie zu ihrem Freund, das es ihr nicht gut ginge und sie sich ein wenig hinlegen wollte. Seit bald zwei Tagen hatte sie schon Blut gespuckt, konnte aber weder von ihrem Freund noch von ihrer besten und ältesten Freundin dazu bewegt werden, zu einem Arzt zu gehen oder direkt ins Krankenhaus zu fahren.
Sie starb gegen 21.30h.
An jenem Donnerstagabend waren mein Angeliebter und ich völlig erschöpft vom Kisten packen sehr früh ins Bett gegangen, um noch ein wenig fernzusehen.
Ich bin, wie immer, schon nach zehn Minuten eingeschlafen und erwachte gegen 22.00h mit Herzrasen und schweißgebadet. Ich schnappte regelrecht nach Luft. Es war wie eine der Panikattacken aus für mich vergangenen Zeiten.
Sie hatte sich verabschiedet.
Warum erzähle ich das jetzt und an dieser Stelle?
Ein Mensch, der mir am Herzen liegt, den ich wirklich gern habe, mit dem ich sehr gern zusammen bin, der aber auf seine ganz eigene Art sehr viel Raum beansprucht, erklärt mir (und anderen) in seinem Blog die enge Freundschaft.
Das macht mich verlegen, weil ich mich gefangen fühle in dieses Menschen Großzügigkeit, seiner Hingabe, seiner Warmherzigkeit und seiner Anteilnahme, in seiner Hilfsbereitschaft. Ich würde diesem Menschen gern soviel sagen und auch soviel fragen, doch traue ich mich nicht, weil ich nicht zu weit gehen will, denn ich möchte seine Grenzen respektieren.
Wie kann ich diesem Menschen sagen, das ich froh bin, das es ihn gibt, aber das er mich manchmal auch an meine Grenzen bringt, manchmal all das auch zuviel ist, das er mich mit manchen seiner Züge und Muster an A. erinnert und es mir dadurch schwerfällt, den nötigen Abstand, aber auch die nötige Nähe zu schaffen.
Das er ist wie er ist und wir ihn trotzdem für weit weniger immer noch genauso lieb hätten.

1 Kommentar:
Oh Süße, soeben wird mir erst so richtig bewusst, wie wenig ich doch von dir weiß, dich im Grunde gar nicht richtig kenne. Und doch kann ich sagen, dass das Wenige, was sich mir von dir bisher offenbarte, mich im Herzen berührt hat. Wo du bist, ist Wärme und Güte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der sich nicht gern in deiner Nähe aufhält.
Und doch scheint mir die Kluft zwischen unseren Gemütern beinahe unüberwindbar. Du bist so voll von Emotionen und geistreichen Gedanken, die du scheinbar ohne Scheu an deine Mitmenschen weiter gibst. Ich dagegen muss aber befürchten, meinem Gegenüber als gefühlskalt zu erscheinen. Ich verfluche meine Rationalität und meine Unfähigkeit Gefühlen Ausdruck zu verleihen und sie in Worte zu packen. Wie gern würde ich mich an euren oft geführten tiefsinnigen Gesprächen beteiligen, aber allein schon meine Gedanken kommen mir deinen Worten gegenüber lächerlich vor. Mir ist natürlich auch bewusst, wie dumm es von mir ist, dann lieber zu schweigen. Zu schreiben fällt mir da schon leichter. Vielleicht sollte ich mir auch einen Blog anlegen.
Ich hoffe sehr, dass wir noch genügend Gelegenheiten finden, uns gegenseitig besser kennenzulernen.
Fühl dich ganz doll geknuddelt von der F.
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